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Erfüllung und Vernachlässigung - Melvin - 02.01.2019 Hallo Menschen, vor einigen Tagen fuhr ich im Auto, es war Nacht, dunkel, kalt und glatt. Zuvor saß ich bei einem Freund und habe mein Leid geklagt. Und zwar in der Form, als ich das Gefühl hätte, immerzu um Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen, erst recht aber darum, mit meinen Bedürfnissen gesehen werden. Mir kam da der wertstarke Begriff "Vernachlässigung" in den Sinn. Und sofort begann ich zu anzuklagen und zu veruteilen. Die Autofahrt dauerte etwa 30 Minuten. Eine kurze Strecke führte über eine Bundesstraße. Dort fuhr mir jemand dicht auf, was ich hasse. Ich fühlte mich provoziert, hielt mich jedoch zurück und machte Platz, damit er vorbeiziehen konnte. Etwas später dasselbe Spiel. Nur dass diesmal der Fahrer hinter mir so dicht auffuhr, dass sich die Stoßstangen zu berühren drohten. Sein Licht war hell und impertinent. Ich entwickelte heftiges Herzrasen und berstende Wut. Er blieb derweil an mir kleben, obzwar er problemlos hätte überholen können. Nach einer kurzen Weile bremste ich ihn herunter, entschlossen, ihn beim Stillstand aus dem Auto zu zerren. Durch mich wirkte eine schockierende Kraft, die tiefen Frust in bebenden Jähzorn verwandelte. Ich denke, er hat das gespürt. Ich kann nicht viel über diese Person sagen, außer dass sein Fahrstil rücksichtslos, aggressiv und kleingeistig wirkte. Jedenfalls war er wohl etwas überrumpelt. Er zog an mir vorbei und ich lichthupte stakkatoartig hinter ihm her. Darauf bremste er hektisch und fuhr über einen schlecht einsehbaren Feldweg ab. Offenbar hatte er die Flucht ergriffen. Mein Herz kasperte und mir standen Tränen in den Augen. In letzter Zeit hatte ich häufiger die Beherrschung verloren und war jemand geworden, der nicht meinem Naturell entspricht. Ich bin friedliebend, sanft und zurückhaltend. Diese Ausbrüche konterkarieren meine Eigenschaften jedoch. Ich lockerte den Griff um das Lenkrad, ließ erst zu, dann los. Ich greinte und wurde von der mir bekannten tiefschwarzen Trauer übermannt, die ich mal als nicht von dieser Welt bezeichnet hatte. Dann habe ich gebetet. Ich adressierte das Gebet an niemanden. Ich schickte es einfach durch den Raum. Es war mehr ein Beichten, mehr ein den Gefühlen Ausdruck verleihen, ein trauriges Bitten auch. Ich sah mich in meiner Vernachlässigung. Sah, dass ich suchtkrank bin und vieles tue, um mich mit Substanzen, Bildern oder Anderem aufzufüllen. Und gelangte so zu dem ausdrucksvollen, mit vielen Konnotationen benetzten Begriff "Erfüllung". Ich weiß nicht mehr, wie ich und was ich alles gedacht habe. Auf jeden Fall gelangte ich von der Empfindung vernachlässigt zu sein zur Erkenntnis, dass ich dagegen den Habitus "patholigischer Auffüllung" entwickelt hatte, als Bandagierung eines mächtigen Mangelgefühls sozusagen. Ich sei nicht nur auf- sondern überfüllt. Und der Grund dafür lag plötzlich glasklar vor mir: Fremdstoffe, Nichteigenes, Herbeigezerrtes, Kurzlebiges, bisweilen Kontaminierendes - damit füllte ich mich auf, nicht aber mit dem Wesentlichen, dem Eigentlichen, dem, was mein geliebter Sir Thomas Brown vor hunderten Jahren mit mystischer Präzision auszudrücken verstand: If thou couldst empty all thyself of self, Like to a shell dishabited, Then might He find thee on the Ocean shelf, And say — "This is not dead," — And fill thee with Himself instead. - mit mir. Erfüllung ist mein Urbedürfnis. Oft hab ich mich leer gemacht. Buddhas Anweisungen gefolgt und ganze Ich-Festungen in mir abgerissen. Charaktermüll entsorgt. Dass aber nichts als ein um Muttermilch flehendes Ego zurückbleibt, hat mir keiner gesagt. Dass es sich an allem nährt, was feilgeboten wird und sei es dem Bewusstsein, krank und vernichtet zu sein, ebenfalls nicht. Ich habe mich selbst voll und ganz vernachlässigt. War aufgequollen, grob und dumpf. Und das prägte meine Begegnungen, färbte soziale Interaktionen und schreckte Mitmenschen ab, nach denen ich mich so sehr sehnte. Um ihnen mich schmackhaft zu machen, brauchte ich nur - mich. Irre. Am nächsten Tag mäanderte ich konzentriert und achtsam durch einen kleinen Wald, den ich sehr gern habe. Während ich das tat und überwiegend Vogelgezwitscher lauschte und Baumstämme betrachtete, konnte ich plötzlich mein Ego fühlen. Ein Ich-Empfinden, dass sich inmitten der ganzen Bewegung, des ganzen Werden- und Vergehen produzierte, und reagierte und wieder neu produzierte und ständig Meldung gab. Ich konnte es zum ersten Mal als einen eigenständigen Bereich empfinden und sah, dass alles, was ich dazu nun dachte, auch alles, was ich darüber mal berichten werde - wie diesen Text zum Beispiel - aus ihm hervorgeht und Richtungen vorgibt, Türen schließt, einschränkt. Das war aufregend, überwältigend und absolut rührend. Denn ich weiß, dass ich mein Ego brauche, zum einen für diese Erfahrung, zum anderen für die soziale Existenz, aber für mich gilt seither: Ich habe ein Ego. Das Ego hat nicht mich. Es ist mein Tool, mein Werkzeug. Es darf in meinem Bewusstseinsraum stattfinden, darf Meldung geben, darf auch mal kreischen und meckern. Aber es darf mich nicht aus mir selbst herauszerren und an ein Ereignis ketten. Ich glaube, das ist der Weg. Der Eigentliche. Ihr seid Wunder. Alle. Melvin RE: Erfüllung und Vernachlässigung - Eik - 06.01.2019 Hallo lieber Melvin, Ich denke Du bist nicht der Einzige dem es so ergeht, es braucht schon eine Menge Erfahrung, sich nicht mehr provozieren zu lassen von solchen Dingen, die uns ja allen begegnen! Ich wünsche Dir erst mal hier, ein gesundes neues Jahr, auch von Isabelle! Liebe Grüße Eik RE: Erfüllung und Vernachlässigung - Matthias - 06.01.2019 Hallo Melvin, solche Ausbrüche, wie Du sie beschreibst kenne ich aus meiner eigenen Vergangenheit sehr gut. Die meisten Menschen kennen mich wohl auch als einen eher friedfertigen, ruhigen und ausgeglichenen Menschen, es gab aber auch bei mir immer wieder Situationen in meinem Leben, die mich zunächst heillos überfordert haben. In den Situationen selber habe ich die aufkeimende Wut meistens erst mal unterdrückt, was aber dazu führte, dass sie sich in meinem Inneren festsetzen konnte und unbemerkt mein weiteres Leben bestimmte. Wut und Aggression wollten lange Zeit auch gar nicht zu meinem schönen Selbstbild passen. Auch dass unser Ego ein zu überwindender Übeltäter ist wurde mir schon als Kind immer wieder eingebläut. Das führte dazu, dass ich versuchte mein Ego so gut es mir möglich war zu verdrängen. Der beste Weg es niemals los zu werden! In Ruhe betrachten, was einem unlieb ist, das bringt einen weiter! Liebe Grüße Matthias RE: Erfüllung und Vernachlässigung - phaeton - 07.01.2019 (06.01.2019, 15:45)Matthias schrieb: Hallo Melvin, RE: Erfüllung und Vernachlässigung - Matthias - 14.01.2019 Liebe Phaeton, mittlerweile ist mir das so auch alles klar, aber dieses Leben war für mich wohl dazu bestimmt mich erst einmal ziemlich zu verwirren. Juliane hat mir mal gesagt, sie würde bei mir als Problem sehen, dass ich ein guter Mensch sein wolle. Das habe ich damals überhaupt nicht verstanden, weil ich das für eine überaus noble Einstellung hielt. Aber das beschreibt tatsächlich ganz gut das Problem, in dem ich lange verhaftet blieb. Obwohl ich relativ freiheitlich aufgewachsen bin und mir auch schon als Kind relativ früh Gedanken der Erkenntnis zugänglich waren, war meine Erziehung doch eher von ethischen Verhaltensvorschriften und hohen Idealen geprägt. Im Rückblick sehe ich mein Aufwachsen in diesem speziellen Umfeld daher eher etwas zwiespältig. Schon als Kind habe ich den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zwar gesehen, war aber noch nicht in der Lage das dahinter liegende Kernproblem wirklich zu durchschauen. So habe ich mich über meine Lehrer nur beklagt und wollte nur irgendwie besser sein. So was wie Schatten hatten da in meinem Denken noch lange keinen Platz. Vielleicht war es da ganz gut, dass ich dann erst mal richtig Krank geworden bin ![]() Wer weiß, wo ich mich sonst noch hin verirrt hätte ![]() Sicher nicht der Idealweg, aber die Krankheit hat mir letztendlich geholfen, all das ans Licht zu befördern, was ich zunächst so nicht sehen wollte. Vermutlich habe ich diesen dicken Knüppel gebraucht und um ganz ehrlich zu sein, wollte ich auch erst einen etwas abenteuerlichen Umweg machen ![]() Mittlerweile ist mein Bedarf an spektakulären Abenteuern aber restlos gedeckt und ich bin froh wieder zu meiner ruhigen und ausgeglichenen Ausgangspersönlichkeit zurückgefunden zu haben. Denn ohne Ruhe und Ausgeglichenheit geht wahre Erkenntnis am Ende nicht. Aber dahin musste ich erst wieder kommen, was wirklich nicht einfach war. Heute auch mit einem Lächeln ![]() ![]() ![]() RE: Erfüllung und Vernachlässigung - phaeton - 17.01.2019 (14.01.2019, 22:56)Matthias schrieb: Liebe Phaeton,Lieber Matthias |