(06.12.2024, 09:47)Melvin schrieb: [ -> ]Zum "Urtrauma", wie ich es sehe: Die Geburt markiert nicht nur einen biologischen Übergang, sondern symbolisiert den Beginn des sozialen Lebens. Der Eintritt in die Welt ist also gleichbedeutend mit der Trennung von einer ursprünglichen Einheit und der Konfrontation mit der sg. sozialen Ordnung, die uns prägt. Hat das für dich denn einen, wenn auch nicht-traumatischen Impact?
Das sehe ich mehrschichtiger. Die Geburt ändert erstmal gar nicht viel im sozialen Sinn - das Baby ist weiterhin völlig abhängig und für sich allein nicht lebensfähig.
Der viel interessantere Punkt scheint mir zu sein, wenn das Kind lernt "ich" zu sagen. Denn genau da begreift es sich selbst als eigenständiges (soziales) Wesen - und erst genau da wird die Zeit erschaffen. Vorher gibt es nämlich noch keine Zeit, sondern nur Gegenwart.
Indem das Kind "ich" sagt, versteht es sich selber als existierenden Punkt in der Raumzeit. Und diesen Punkt kann es nun räumlich und zeitlich als einen Hebel benutzen, um seine eigenen Interessen durchzusetzen - es kann nun, mit anderem Wort, erstmals
taktieren.
Und soweit ich es verstehe, ist das auch genau das, was die Christen "Ursünde" nennen: an der Stelle entsteht eine eigene Identität, die eigene Interessen verfolgt, die nicht mehr eingebunden ist in die allumfassende Gegenwärtigkeit, sondern allein für sich steht - die also, bildlich gesprochen, "getrennt von Gott" ist.
Das ist natürlich unvermeidlich, weil es die einzige Möglichkeit ist, um ein Individuum zu werden. Das ist also so vorgesehen und ins System eingebaut: wir müssen diesen Abfall von Gott vollziehen, um danach selbstverantwortlich und aus eigenem freien Willen wieder zur All-Einheit zurückzufinden.
Zitat:Es ist jedenfalls kein Zufall, dass religiöse und spirituelle Traditionen stets solche Rückkehrmythen kultivieren. Sie sollen wohl dazu dienen, individuelle Erfahrungen in kollektive Bedeutungsrahmen einzubetten und so das "Chaos des Lebens" zu ordnen. Das bekommen sie natürlich nicht hin,
Das bekommen sie durchaus hin. Eine religiöse Tradition taugt recht gut dafür, um einem haufen Leute ein irgendwie geregeltes soziales Leben zu vermitteln. Das ist ihre erste und umfassendste Aufgabe. In einem zweiten Schritt vermittelt sie, wie Du sagst, Mythen. Diese Mythen liefern Antworten auf genuin unbeantwortbare Fragen, wie "Woher kommen wir", "Was ist der Sinn", usw.
Diese Mythen sind aber nicht einfach nur beliebige Märchen, sondern sie sind Chiffren. Und dann kommt die dritte Ebene, die für die Erkenntnissucher ist. Da schlüsseln diese Chiffren dann und machen Sinn, und zeigen einem den Weg zurück zur Einheit - den man dann freilich selber und für sich gehen muss.
Zitat:sondern gehen vielmehr ausbeuterisch vor; so wie der Bader im Mittelalter davon gelebt hat, jedes Leiden mit Aderlässen zu therapieren und in seiner Rolle überwiegend alternativlos war.
Das ist der Mediziner ja heute auch. Religiöse Mythen sind aber nicht alternativlos, im Gegenteil, die brauchen Dich überhaupt nicht zu kümmern. Ich an Deiner Stelle würde das grad umgekehrt angehen: ich würde das religiöse Geschwätz der Lächerlichkeit preisgeben - und erst dann, wenn Deine eigenen Erfahrungen etwas ergeben, und der religiöse Mythos dafür geeignet erscheint um eben dieses Etwas zu beschreiben, erst und genau dann hat er seine Nützlichkeit erwiesen. Solange dem nicht so ist, ist der Mythos irrelevant und nur für die Leichtgläubigen da.
Zitat:Der Markt für Therapien und spirituelle Angebote übernimmt genau jene Rolle, die früher den Religionen vorbehalten war: die Bearbeitung von Erfahrungen der Fragmentierung und Entfremdung. Die „Therapieindustrie“ folgt dabei den gleichen Prinzipien wie der Ritus: Sie strukturiert das Chaos und bietet symbolische Wege der Heilung an – allerdings auf eine individualisierte, kommerzialisierte Weise, die ihrer kollektiven Funktion beraubt scheint und nach meiner Erfahrung auf der ein oder anderen größeren Illusion aufbaut.
Dann ist das aber kaum mehr als ein selbststreichelndes "gut dass wir drüber geredet haben" oder "du bist nicht allein". Es hat kaum etwas zu tun mit wirklicher Erkenntnissuche - die funktioniert m.E. auch gar nicht im Therapie-Kontext.
Zitat:Deine eigene Erfahrung, die plötzliche Erkenntnis der Einheit allen Seins, verstehe ich durchaus als Offenbarung. Doch sie unterscheidet sich grundlegend von den Erfahrungen derer, die du als „Therapiesuchende“ beschreibst: Deine Erkenntnis ist isoliert, nicht geteilt, und dadurch sozial folgenlos. Denn es ist ja die Gemeinschaft, die solche Erfahrungen verankert, sie heilig macht und ihre transformative Kraft entfaltet. Ohne die Einbindung in ein kollektives Ritual wird eine individuelle Epiphanie zu einer persönlichen Herausforderung – weniger ein Fundament für sozialen Zusammenhalt als eine Quelle der Vereinzelung. Vielleicht macht gerade das so einsam.
Ich sehe nicht wie das anders ginge. Erkenntnis muss man ja für sich selber finden, die ist genuin nicht teilbar. Informationen kann man teilen, Erkenntnis nicht.
Und dann ist es ja so: das Individuum lernt im laufe seines Heranwachsens, sich als ein "ich" in dieser Welt irgendwie durchzuschlagen. Wenn man dann zu der Erkenntnis findet, dass das All-eins sehr wohl wirklich existiert und auch erfahrbar ist, und eben nicht nur ein Mythos ist - dann hat man erstmal immer noch das Problem, wie man damit zurechtkommt. Dann muss eine Balance gefunden werden zwischen dem "ich" (das es nach wie vor noch braucht um in dieser Welt irgendwie zurechtzukommen) und dem All. Und auch diese Balance kann man nur für sich selber entwickeln.
Zitat:Die Geschichte mit der Architektin oder des jungen Mannes, die durch "Selbstoptimierung" eine Art Erlösung suchen, spiegelt diesen Zustand wider. Die modernen „Heilungsrituale“ verlagern das Heilige vom Transzendenten ins Psychologische, doch sie perpetuieren das Trauma, indem sie das Ziel immer unerreichbar lassen. Statt kollektive Versöhnung zu schaffen, drängen sie den Einzelnen in einen unendlichen Prozess der Selbstverbesserung, was ich ganz und gar ekelhaft finde.
Die suchten ja keine "Erlösung", sondern Beziehungsfähigkeit. Und wenn man sich die Werbung dieser "Heiler" anguckt, dann sind da oft Bildchen von Paaren, die sehr glücklich miteinander aussehen.
Die zielen also nicht auf Erkenntnis, oder Erleuchtung, sondern auf eine erfüllte Beziehung.
Zitat:Vielleicht liegt in deiner Erfahrung der Einheit ein Schlüssel: die Möglichkeit, eine neue, gemeinschaftliche Vorstellung des Heiligen zu stiften – jenseits des Konsums und jenseits der Isolation. Schade, dass du es nicht genauer in Worte fassen, gar eine Anleitung formulieren kannst...
Das ist nicht neu. Das gab es schon immer. Und ich kann das genauer fassen, aber das nützt nix, weil im Grunde alles das, was man sich im Laufe des Lebens als "ich" konstruiert hat, dafür zerstört werden muss. Für das Bewusstsein, das sich (irrigerweise, aber das hilft uns nicht viel) mti dem "ich" identifiziert, ist das gleichbedeutend mit sterben.
Das ist im grunde die Idee der Göttin Kali, und der Hinduismus kennt ein paar Ansätze, damit umzugehen.