Themabewertung:
  • 0 Bewertung(en) - 0 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Die Chrästoi (Juliane Bobrowski) Übertrag aus dem alten Forum
#1
Inhalt

1 -  Ägypten 
2 -  Imhotep und die „Theologie“ von Memphis 
3 -  Lebenslehren und Totenbücher 
4 -  Israel 
5 -  Das skandalöse Buch des Predigers 4
6 -  Die Weisheitslehren der Bibel 5
7 -  Rom und Hellas 
8 -  Die Lehre der Verborgenen Worte 5
9 -  Die Theurgen 7
10- Die nützliche Lehre 7
11- Die „Gnosis“ – Lebenslehre, Philosophie oder Religion? 
12- Die Lebenslehre 9
13- Die Philosophie 11
14- Die Religion 13


Ägypten 


Die nützliche Lehre beginnt ihren Weg im Abendland im Ägypten des Alten Reiches. In anderen Weltteilen ist sie unter dem Namen des Buddhismus und in der Philosophie Laotses ebenfalls bekannt. Aber hier soll es vornehmlich um den Weg der Lehre im Abendland gehen, denn vor allem dieser ist für uns wesentlich. 
Imhotep und die „Theologie“ von Memphis.

Dass Imhotep keine mythische Figur ist, ist spätestens seit der Statue des Djoser im Ser-dab an seiner Pyramide von Sakkara bekannt, die seinen Namen und seine sämtlichen Titel nennt. Damit ist auch seine Lebenszeit bekannt, sie liegt um die Jahre 2650 vor unserer Zeit-rechnung. Erwiesen ist, dass er der Erbauer der Stufenpyramide von Sakkara und des dazu gehörigen Festkomplexes für das Heb – Sed – Fest des Königs war. Als erwiesen kann auch gelten, dass er die sogenannte Theologie von Memphis verfasst hat, aufgrund derer der Re – Kult von Heliopolis (Anu) relegiert und Ptah zum Reichsgott Ägyptens erklärt wurde. Die-ser Text ist auf abenteuerliche Weise bis auf uns gekommen, und begründet, wenn auch etwas lädiert (der Stein, auf dem er in der Spätzeit kopiert worden war, wurde lange Zeit als Mühlstein verwendet und entsprechend abgeschliffen), die Entstehung des Lebens aus dem Geist, statt, wie durch Re – Atum angenommen, aus dem Sperma. Die Weltentstehung wird durch den Geist keineswegs negiert, aber sie erfolgt erst in zweiter Instanz und erst in dritter erfolgt dann die Reproduktion des Lebens durch das Sperma – um im gegebenen Bild zu bleiben. Fortan wurde Imhoteps Lehre, auch über die „Herrschaft“ Ptahs als Reichgott hinaus, zur unverrückbaren Staatslehre Ägyptens und genoss sozusagen „Verfassungsrang“. Nach ihren Vorgaben wurde der gesamte Kader der ägyptischen Staatsbeamten ausgebildet und zu diesen Staatsbeamten gehörte auch die gesamte Priesterschaft. Diese Ausbildung wurde bis in die Zeit der griechischen Ptolemäer hinein praktiziert. Einzige Ausnahme war die Priesterschaft des Amun, die lediglich einen traditionellen Kult ausübte und keinen Zugang zur ägyptischen Staatslehre hatte, wofür sie sich dann mit einer ausgeprägten Raff- und Machtgier revanchierte. Sonst gab es keinen Kult in Ägypten, er mochte bedeutend sein oder nicht, dessen priesterlicher Sachwalter nicht diese Ausbildung durchlaufen hatte – aber Beamte wurden nicht nur für den religiösen Sektor ausgebildet, sondern sie waren in der gesamten Verwaltung des Reiches tätig. Sie besetzten alle Posten, vom „Ministerpräsidenten“ bis hinunter zum Verwalter eines Staatsgutes oder zum Dorfschulzen und zum „Sachbearbeiter“ in der Steuerbehörde, die mit dem „Standesamt“ verbunden war. Sie waren als Ärzte, Lehrer und Richter tätig, während die „Wirtschaft“ Ägyptens weitgehend von nicht ausgebildeten Ägyptern betrieben wurde – es herrschte Gewerbefreiheit in Ägypten. 

Bereits im Neuen Reich begann aber die Ausbildung der Staatsbeamten von einer exis-tenziellen Ausbildung zu einem reinen Lehrberuf zu verflachen. Diese Verflachung erfolgte nicht überall gleichmäßig, aber die Zahl der Tempel, an denen sie vollgültig geübt wurde, nahm mehr und mehr ab, die Anzahl der nicht „rite“ ausgebildeten Beamten nahm zu und entsprechend verflachte der ethische Anspruch und wich die Vertrauenswürdigkeit der Be-amten, stieg ihre Anfälligkeit für Korruption. Mit der Übernahme der Herrschaft durch die Ptolemäer erreichten die ägyptischen Priester, dass parallel zur neu gegründeten Hochschule von Alexandria in der die „profanen“ Wissenschaften gelehrt wurden, auch drei „theologische“ Hochschulen gegründet werden konnten: die Hochschule von Philae im Süden Ägyptens, die Hochschule von Edfu in Mittelägypten und die Hochschule am Serapeum in Alexandria im Norden. An diesen drei Stätten wurde nun der Ausbildungsweg der Staatsbeamten Ägyptens in seinem ganzen Umfang weiterhin gelehrt. 

Wie aber sah diese Ausbildung nun aus? Der Auszubildende wurde über Jahre hinweg einer Charakterschulung unterworfen, er wurde gelehrt, mit sich selbst und seinen eigenen Fähigkeiten angemessen umzugehen und daneben lernte er alle zur Verwaltung eines Ge-meinwesens nötigen Fertigkeiten, sowie nach Gefallen auch die priesterlichen Wissenschaf-ten von den Göttern und ihren Kulten oder die in Ägypten hoch entwickelte Medizin. War er mit diesen Ausbildungswegen so weit gekommen, dass sein Wissen als komplett angesehen werden konnte, hatte er sich auch in der Forschung als tüchtig erwiesen und war sein Charakter nach menschlichem Ermessen einwandfrei, wurde er der letzten Übung unterzogen: der Begegnung mit seiner spirituellen Beschaffenheit. Dazu wurde er in einen todähnlichen Zustand versetzt und erlebte, vorher durch ein ausgedehntes Training darauf vorbereitet, mit Träumen und Visionen umzugehen, sich selbst als nicht mehr körperliches Wesen – er pflegte sozusagen Umgang mit den Göttern und begriff sich selbst als einer von ihnen. Aus diesem Zustand zurückgekehrt, hatte er einen grundlegend neuen Begriff von seiner Beschaffenheit und Verantwortlichkeit und machte diesen in seinem weiteren Leben geltend, gleich in welcher Aufgabe er konkret eingesetzt wurde. 



Lebenslehren und Totenbücher

Man sagt, die Ägypter hätten so etwas wie Philosophie nicht gekannt. Man vergleiche mit dieser Ansicht die vielfachen „Lehren für das Leben“ die uns aus der ägyptischen Litera-tur überkommen sind. Man wird finden, dass sie den späteren griechischen Lebenslehren in nichts nachstehen. Auch die griechischen Philosophen wollten letztenendes nur ihr Leben meistern, sahen es aber sehr viel begrenzter als rein irdische Existenz an, während in der ägyptischen Lebensweise Ewiges und Zeitliches permanent ineinander übergingen und auf-einander angewiesen waren. In dieser Beziehung ist die ägyptische Philosophie der griechi-schen überlegen und nicht ohne Grund studierten die frühesten griechischen Philosophen ihr Fach eben bei den Ägyptern. Ich verstehe, dass das Manchem nicht recht passen will, aber so ist einmal die Lage der Dinge. Und Weisheit ist etwas durchweg Menschliches – das war sie auch für die Ägypter. Aber ihr Begriff für Menschlichkeit war für das „Göttliche“ durchlässig, während im griechischen Denken das Göttliche schlechtweg im Guten und Bö-sen menschlich gedacht wurde. Der Gott der Griechen war ein Grieche, der Gott der Ägypter aber nicht notwendiger Weise auch Ägypter. Das zeigen anschaulich die vielen Mischformen in denen die ägyptischen Götter ihren Verehrern erscheinen und das ist nur die volkstümliche Seite ihrer Religion, die so viel mehr als nur Religion war, sondern eben Lebenslehre auf allen Ebenen des Lebendigen, von der die Ebene des Menschlichen nur eine mögliche Ebene war. Das zeigen auch anschaulich die Briefe, die Ägypter an ihre verstorbenen Angehörigen schrieben – das zeigen ihre Träume, die für sie der tägliche Umgang mit den zeitlosen Dingen waren. Dieser Umgang war allen vertraut, nicht nur den „Eingeweihten“ – die lernten nur ihn bewusst zu nutzen und zu beherrschen. Den Ägyptern galt die Zeit des Schlafens als eine der des Wachens ebenbürtige aktive Zeit, sie verschenkten keine Sekunde ihres gesamten Lebens und dieses ganze Leben war in die Geborgenheit einer Philosophie gehüllt, die dieses ganz Leben bejahte und dem Willen, Gutes zu tun sogar den Vorrang gab vor dem wirklich vollbrachten Guten – womit wir bei den Totenbüchern angekommen wären. Denn die Richter über die Seelen der Toten waren nicht blind, aber auch nicht ohne Verständnis für das menschliche Leben, das so vielfach anders verläuft als der Mensch will und hier greifen Lebenslehre und Totenbuch ineinander. Denn im Totenbuch, das übrigens kein fixierter Text ist, sondern für jedes Individuum besonders hergestellt wurde, geht es um das Wesen des Menschen, um seine ethische Ausrichtung, um sein Wollen, nicht um sein Tun. Es hat so Mancher die Dinge nicht vollbracht, die er doch beabsichtigte und gewogen wird am Ende die Absicht, nicht die Tat. Und so sind nicht viele Menschen im Rachen der Seelenfresserin gelandet, aber für die, die dort landeten, bedeutete auch das nicht das Ende; die Seelenfresserin war eine Art Recycling, die „alles auf Anfang“ setzte und das, was so nicht ging, tilgte. Wenn es so nicht ging, wird es anders gehen, war die Philosophie der Ägypter und verloren ist keiner, denn das Ewige, Zeitlose, hat Raum für alles, eben weil es kein „Raum“ im physikalischen Sinne ist. Wenn es aber so ging, dann konnte es auch so weitergehen – das ägyptische Paradies ist kein Ort für Harfenspiel und Halleluja – Singen. Es ist ein dynamischer Ort, an dem Entwicklung stattfindet, es ist ein sozialer Ort, an dem Miteinander stattfindet, an dem sich neue Konstellationen ergeben, die irgendwann dann wieder in ein Menschenleben münden – die Ägypter propagierten die Seelenwanderung nicht, aber sie kannten sie. 
Umstritten und mit Recht ist, ob die Ägypter eine heimliche Eingottreligion pflegten. Ich plädiere nicht für eine solche, aus dem einfachen Grund heraus, dass es unter Göttern und als solcher erkannte sich jeder Eingeweihte selbst, keine Hierarchie gibt. Hierarchien unter Göttern schafft sich der Mensch und so verstand sich auch die alte Theologie: als Instrument mit dessen Hilfe der Mensch sich Ordnungen unter den Göttern schafft, damit er ihre Viel-heit beherrschen und überblicken kann. Den Menschen, die sich nicht erkannten, waren die Götter ohnehin als Vielheit traditionell bekannt. Sie hätten und das sehen wir deutlich bei Echnaton, sehr irritiert reagiert – und das haben sie denn auch – wenn man ihnen die Vielfalt genommen hätte und die Torheit Echnatons besteht darin, dass er das Unmögliche tat, denn die Sonnenscheibe gibt es wohl, aber den einen Gott gibt es nicht. Es war ein hoch ambitioniertes Kinderspiel, das er da betrieb. Er betrieb es ja auch nicht von Anfang an, sondern wollte nur den spirituell ohnehin anfragbaren Amun – Kult relegieren. Aber sein übertriebenes Misstrauen führte dazu, dass er sich auch gegen die alten Kollegien und ihre Götter wandte – und das brach ihm dann politisch das Genick und darüber brach er auch physisch zusammen. Die Vielfalt aber überwand sein Missverständnis. 

Lebenslehren und Totenbücher – sind zwei Seiten der gleichen Medaille und als solche waren sie jedem Ägypter vertraut. Die Lebenslehren waren Schulstoff, die Totenbücher be-gleiteten im Sinne der Lebenslehren den von dieser Welt Abgeschiedenen in die Zeitlosig-keit, um ihm dort Führer in den Lebenslagen zu sein. Die Medaille aber ist das Leben, das für den Ägypter keine Dualität Tod kennt, sondern der Tod ist für ihn nur der Strich, der die irdische Dimensionierung von der Dimensionslosigkeit des Ewigen trennt. 


Israel

Das skandalöse Buch des Predigers

„Denn des vielen Büchermachens ist kein Ende“ – ist eines der letzten Worte des Predi-gers im Alten Testament und seine Botschaft ist „es ist alles eitel und ein Haschen nach Wind“. Worum geht es sonst in diesem Buch? Um die ewige Wiederholung des immer Glei-chen. Um die Erkenntnis, dass das menschliche Leben in immer den gleichen Bahnen ver-läuft – aber der Prediger zieht daraus keine weiteren Schlüsse, er führt es sich nur vor Augen und beleuchtet dabei die Fährnisse des Lebens, das für ihn mit der Vernichtung des Lebens endet. Was immer du tust, am Ende steht „denn es geht dem Menschen wie dem Vieh.“Einen größeren Unterschied zur ägyptischen Philosophie des Lebens kann es nicht geben als diese verzweifelte Provokation des Kohelet und man versteht, warum es große Diskussionen gab, diese Schrift unter die Schriften des Tenach aufzunehmen. Dieses Buch aber bezeichnet das Ende zu dem das jüdische Denken in dieser Zeit kam. Es bezeichnet aber auch, implizit, die Unzufriedenheit des Menschen mit einem solchen Fazit. Der Mensch als Gefangener seiner Umstände befriedigt den Autor nicht, aber er kann aus diesem Gefängnis auch nicht entweichen. Alles, was ihm dabei bleibt, ist die vage Hoffnung auf seinen einzigen Gott, der den Menschen wohl nicht ohne Grund so geschaffen hat, dass er wie der Esel ständig nur im Kreise geht. 

Das geistige Leben Israels erschöpfte sich in der Beschäftigung mit dem Kultgesetz und in erbaulichen Gedanken, die ihn über die Öde der geistigen Landschaft hinweg trösten soll-ten. Gegen diese Erbaulichkeit und ihre Illusionen rebelliert der Prediger. Damit ist er eine profane Stimme mitten im religiösen Meer, in Israel eine fremde Stimme, eine aufstörende Stimme. „Denn alles, was geschieht, ist schon zuvor gewesen.“ Die Welt ist aussichtslos, der Kreis geschlossen, es geht nicht vor, nicht zurück. Das ist die Situation, in der ein Mensch aus Ägypten kommt und mit sich bringt, was alles ändern kann – aber nicht ändern wird, er stolpert über seine eigenen Füße, aber wir werden noch sehen, wie. Für Israel bleibt das Tor geschlossen, hat seine Botschaft nur noch die Kraft, zu einer neuen Religion zu werden. Erst in anderen Händen, in denen einer Frau und ihrer Schüler, wird sie das werden, was sie sein kann. 



Die Weisheitslehren der Bibel

Es gibt auch in der Bibel Israels Lehren für das Leben. Aber sie lehren keine Philosophie, wenn man nicht die Ethik als Bestandteil einer solchen betrachten will. Ihr Autor ist ein guter Beobachter und sicher auch mit einiger Erfahrung gesegnet. Aber ein Lehrer „überirdischer“ Wahrheiten ist er nicht. Und so sind auch die Proverbia bei allen Anklängen an die nützliche Lehre ihr nicht gleich; auch dann nicht, wenn manche Autoren sie in der Nähe zumindest eines Geschwisters aus der „Gnosis“ genannten Ideenfamilie vermuten. Sie sind es nicht. Israel ist bis zum Auftreten des historischen Jesus eine Kultur ohne Selbsterkenntnis, dafür aber mit sehr viel und durchaus streitbarer Gotteserkenntnis – aber was nützt die schon, wenn die Vorstellung dessen, was ich erkennen will, schon eine Chimäre ist? 


Rom und Hellas

Nein, Rom ist nicht Hellas. Aber in der römischen Welt wurde öfter Griechisch gespro-chen und gedacht als Lateinisch. Wie bekannt ist, sprachen gebildete Römer lieber Grie-chisch als ihre zwar logisch durchkonstruierte, aber wenig poetische Muttersprache. Man kann einander in Latein sehr viel besser und präziser Mitteilungen machen – aber jemanden eine Angelegenheit taktvoll beizubringen, eignet sich das Griechische eben besser. Über di-verse Mittel- und Additivformen verfügt es sowohl in der Grammatik als auch in der Lexik über einfache bis vielfach geschraubte Möglichkeiten der Benennung, sie kann präzise sein, muss es aber aufgrund vielfacher Synonymbildungen nicht. Ein Wort schließt oft ganze Wortfamilien ein und jeder kann sich das Passende heraussuchen – eine Sprache für Diplo-maten. Dabei klangschön, weil reich an Vokalen und Diphthongen und in der Betonungs-praxis des Altgriechischen auch rhythmisch ein Ohrenschmaus nicht zu vergleichen mit dem heutigen vergleichsweise monotonen Griechisch. Dabei herrschten zur Römerzeit schon nicht mehr die alten Dialekte vor, sondern man sprach und schrieb ein helles und vor allem einheitliches Griechisch, die sogenannte Koine, Betonung auf der zweiten Silbe, sonst wird’s peinlich. Selbstverständlich gab es aber auch ein Alltagsgriechisch in dem nicht alles so fein und elegant formuliert war, wie im Griechisch der Gebildeten, das die Römer vorzugsweise sprachen und schrieben. Graecia capta romanos cepit - das besiegte Griechenland besiegte die Römer. Und wer im ganzen Reich gelesen werden wollte, der schrieb eben Griechisch. Mit Aramäisch, der Sprache der Juden in Israel, kam man nicht weit. Daher folgte jener Schrift über die ich nun sprechen möchte, nach einer aramäischen Urschrift auch bald eine Übersetzung ins Griechische nach. Dass sie anfangs aramäisch abgefasst war, merkt man ihr allerdings noch an. Man kann die aramäische Forum übrigens rückgewinnen, nur fehlen uns heute eben oft die Worte. Dabei ist der Text sprachlich nicht weiter schwierig. Allerdings hat er es trotz seiner Schlichtheit in sich. Aber das liegt nicht an der Sprache, das liegt daran, was sie uns sagt. 


Die Lehre der Verborgenen Worte

Wo soll man anfangen mit diesem kleinen Werkchen, einer Spruchsammlung wie es zu der Zeit viele gab und vordem schon gegeben hatte. Aussprüche, Anekdoten, verdeutlichen-de Geschichten, Parabel genannt oder „Gleichnis“ mit dem alten Vater Luther? Diese weni-gen Seiten schließen nicht nur eine Welt ein, sie eröffnen dem Menschen so weite Perspekti-ven, dass es sie, ehe er verstanden hat, was sie ihm zeigen wollen, gar nicht begreifen kön-nen, was da vor sich geht. Aber leider – das Werkchen trägt auch den Keim großer Irrtümer in sich, es wurde durch diesen Keim zum Stammvater einer ganzen neuen Weltreligion. Der Verfasser dieser kleinen Schrift gab der Welt nur statt eines verschlissenen Jahwe einen neu-en Gott, den „Vater“ als dessen Sohn er sich bezeichnet. Man kann zwar darüber hinweg lesen, aber Millionen Menschen haben seither gerade dies nicht getan, sondern ergingen sich in Anbetung dieses Vaters – bis auf den heutigen Tag. Dabei übersahen sie völlig, wie radikal diese kleine Schrift Welt und Menschen verändern kann, wie sie im Einzelnen und in der Menge wirken kann, dass kein Stein vom Altgewohnten mehr auf dem anderen bleibt. Sollten sie es etwa übersehen? Heißt so heran zu gehen, etwa die „Verborgenen Worte“ so der Titel der Schrift über sich selbst hinaus zu verstehen und also falsch? 

Diese kleine Schrift ist zur Mutter von drei Bewegungen geworden, zwei Religionen und einer Philosophie. Sie alle haben sich aus der Antike heraus bis in unsere Gegenwart erhal-ten, als Christentum, als okkult – magische Gnosis und als „neuplatonische“( der Name ist modern und beruht auf einem systemischen Irrtum) Philosophie. Die drei Bewegungen ha-ben einander bis aufs Blut bekämpft und nie verstanden, dass sie alle drei auf einen einzigen „Vater Abraham“ zurückgehen, der Jesus hieß und zur Zeit des Königs Herodes in Israel lehrte und dann in Rom, wo letzte Überreste seiner Schule bis heute erhalten blieben und besichtigt werden können. Nebenstehend ein Bild des Kellergewölbes mit den augus-teischen Reliefs und dem Mosaikfußboden. Man kann sich die Gemeinde gut vorstellen, die hier den Vater anbetete – dabei stellt das Relief in der Apsis mit der vom Felsen stürzenden Sappho und dem gelangweilt zuschauenden Phaon genau das dar, was in der Lehre gemeint ist: die Seele, die sich in sich selbst stürzt und der Lehrer, der dem Treiben gelangweilt zuschaut. Nicht er ist das Ziel ihrer Liebe und Leidenschaft, sondern ihre eigene Göttlichkeit winkt als Lohn. Reliefs an der Decke erzählen symbolisch von den Fährnissen der „Unterweltsfahrt“ die hier eben unter griechischen statt ägyptischen Vorzeichen vollzogen wurde. Denn die Lehre ist an keinen besonderen Kulturraum gebunden, sie kann sich überall umtun, überall Wurzeln schlagen, unter allen Himmeln heimisch sein. Man nannte sie Chrestomathia, das will sagen, dass diese Lehre unmittelbar nutzbringend dem ist, der sie übt. Paulus machte dann die Lehre von Christus dem Erlöser daraus, aber das muss uns hier nichts angehen. Polemisch wurde diese Lehre Gnosis genannt, weil sie die Selbsterkenntnis meint als Wurzel allen anderen Erkennens. Und Plotin, ein Philosoph der Chrestomathia, wetterte gegen die Gnosis – zu Recht, denn Chrestomathia und Gnosis haben kaum etwas miteinander gemeinsam. Gnosis will die Seele zu Gott bringen – Chrestomathia will sie zu ihrer eigenen Göttlichkeit befreien. In diesem Augenblick fällt zwar alle Religion in sich zusammen, aber manche Leute nennen diese Lehre dennoch religiös. Sie haben sie und sich selbst wohl nicht ganz verstanden. 

Und der Anfang der Lehre liegt in den „Verborgenen Worten“ die hier zu kommentieren den Rahmen komplett sprengen würde und daher unmöglich ist, man lese sie selbst, sie sind unter dem (nachgesetzten) Namen „Thomasevangelium“ in vielen Sprachen zugänglich. Sie sind mit dem Vatergott der Urahn des Christentums, mit der Erkenntnis der Urahn der magischen Gnosis und im Ganzen sind sie der Basistext einer praktischen Philosophie, die man viel später Neuplatonismus nannte, weil einige Vorstellungen entfernt der Philosophie Platos ähneln, vor allem die Lehre vom Eigentlichen und von seinem materiellen Abbild. Bedenken wir, Plato hat in Ägypten studiert, ihm waren also manche Ideen der Ägypter nicht fremd, aber er übersetzte sie ins griechische Denken und das ist nun einmal ein anderes. 
Die Verborgenen Worte sind eigentlich das Äußerste. was über die Dinge gesagt werden kann, die sich dem unmittelbaren Zugriff zu entziehen scheinen – aber diese Äußerste wird nicht in verklausulierten Begriffen gesagt, sondern in eine derart einfachen Art und Weise, dass eigentlich jeder Mensch, philosophisch vorgebildet oder nicht, es verstehen kann. Das ist Jesu Genialität, etwas derart Großes derart einfach gesagt und dennoch nicht verfälscht zu haben – an den Vater hat er wohl selbst geglaubt und sich damit eine Grenze gesetzt, denn „den Vater zu schauen“ ist dem, der sich selbst erkennt, kein Bedürfnis. Er wollte ihn den Menschen jedoch zeigen. Nun gut, was es sonst in den Verborgenen Worten zu finden gibt, macht diesen verhängnisvollen Fehler mehr als wett. 
Die Theurgen
Es ist verständlich, wenn diese Lehre beim gebildeten Publikum, das meistens fromm war, auf Skepsis traf. Andererseits konnte man sich ihrem Versprechen aber nur schwer entziehen, denn diese Versprechen betraf ja die menschliche Freiheit, von der einige Leute bis heutigen Tages überzeugt sind, sie meine nur die juristische Straflosigkeit für begangenes Unrecht, ebenso wie sie überzeugt sind, dass der Verzicht auf ein göttliches Gegenüber ein Freibrief für jede Art ethischer Verstöße sei. Man möge dem Kopf nicht schütteln, ich habe lange in einem Projekt gearbeitet, wo dergleichen Ansichten durchaus toleriert wurden. Es scheint, dass einige Menschen mit dergleichen nicht überein kommen, dass sie Krücken brauchen um sich weiter zu bewegen und „Gott“ ist solch eine Krücke. So kamen die sogenannten Theurgen zu der Ansicht, dass zwar der Mensch zur eigenen Göttlichkeit berufen wäre, aber ein Gott ihm dazu helfen müsse, sie zu erreichen. Von dieser Idee ausgehend bemühten sie sich nicht mehr selbst, sondern beteten zu ihren Göttern, dass einer von ihnen sich herab beugen und sie zu sich hinan ziehen möge. An eine Wandlung des Menschlichen aus eigener Kraft vermochten sie nicht zu denken. So glichen ihre Versammlungen Gottesdiensten und sie selbst waren mit Fug und Recht religiös zu nennen. Dieser Zweig der Chrestomathia, der indes nichts mit Gnosis gemein hatte, war vor allem im Osten des Reiches verbreitet und baute dort seine Glaubenssysteme aus. Im Westen hingegen herrschte eine anspruchsvollere Spielart derselben Philosophie, die den Menschen unverblümt ins Zentrum seiner eigenen Bemühungen setzte und ihm die Mittel an die Hand gab, sein Ziel zu erreichen und, was noch wichtiger war, dann auf seinen eigenen Wegen weiter zu gehen und den Kreis der Erkenntnis nach Kräften zu vermehren. Im Osten bat man um Erkenntnis, im Westen praktizierte man sie, so kann man das in Form einer Faustregel ausdrücken. Im Osten ersann man diverse Sektenregeln, teils asketischen, teils aber auch libertinistischen Charakters, im Westen war man pragmatisch und nahm das Leben wie es kam – immer mit einem Blick in die „Verborgenen Worte“ daneben, in denen man sich zuweilen wiederfand, zuweilen nicht. Im Osten wie im Westen aber überdauerten die beiden Versionen den Zusammenbruch des römischen Reiches und das Ende der Antike und gingen beinahe nahtlos über ins Mittelalter. 


Die nützliche Lehre

Sie nützt in der Tat. Denn sie schafft für das menschliche Leben Prioritäten und für das geistige Leben schafft sie einen sicheren Raum. Sie war auch damals nützlich und schuf eine Anzahl von loyalen Helfern im Staatsdienst – auch wenn zuzeiten einmal der faulen Eier mehr gewesen sein sollten, fanden sich doch immer loyale und verantwortungsvolle Staats-diener, die den manchmal angeschlagenen Kahn auf Kurs hielten. Sie taten, was sie taten, und wenn es auch zuweilen nur wenig war, aus Einsicht in das Ganze und mit der Freiheit dessen, der weiß, was er tut und warum. Sie hielten das Reich aufrecht, während die Kaiser ihre Eskapaden zelebrierten, ihrer Arbeit tat ein Tiberius so wenig weh wie ein Soldatenkai-ser mit kurzem Verfallsdatum. Sie waren die Stillen im Land, die ihre Arbeitsfeld in Ord-nung hielten, weil es letztenendes auch auf diese ankam, wollte der Staat, unabhängig von den Launen oder Fähigkeiten derer an seiner Spitze funktionieren. Aber auch ihre Standfes-tigkeit stieß an Grenzen, als die große Pest, von Osten kommend, über das Reich herfiel und mit seiner Bevölkerung auch seine Wirtschaftskraft dezimierte – das Reich sollte sich niemals wieder ganz von diesem Aderlass erholen, obgleich sie wie immer das Beste gaben. Eine andere Grenze an die sie stießen, war die verfehlte Politik Roms, vor allem Westroms, gegen die eindringenden Barbarenvölker. Es war nicht launische Begehrlichkeit, die diese Völker ans Mittelmeer trieb, es war oft genug die nackte Not, die sie aus ihren Behausungen aufge-scheucht und ins Unbekannte getrieben hatte. Die „Subalternen“, ausgebildet, in allen Din-gen vor allem nach Ausgleich zu streben, hatten mit ihrer Ansiedlungspolitik auch lange Erfolg – bis in der Umgebung der Kaiser Machtgerangel ausbrachen und sie der Instabilität der Verhältnisse nicht mehr entgegen halten konnten, denn alle gewohnten Mittel versagten ihren Dienst, weil sie einmal angeregt, ein andermal wieder ausgebremst wurden. Da half auch alle Sicherheit des Urteils nicht mehr, wenn die Erlasse der Kaiser einander widerspra-chen, heute etwas anderes befohlen wurde als gestern und zwischendurch das Mordmesser regierte. 
Aber sie blieben nützlich, diese Anhänger der nützlichen Lehre, die übrigens längst Christen geworden waren, aber das hinderte sie nicht an sich selbst, sie nahmen es eben nicht so ernst, aber machten mit. Sie erfüllten die christlichen Riten wie sie zuvor den Staats-kult und den Kult des Genius Augusti erfüllt hatten. Es machte ihnen nichts aus und die Freiheit, die wir heute haben, zu alledem Nein zu sagen, hatten sie damals noch nicht. Das hätte sie ihren Kopf und das Wohl ihrer Familien gekostet, sie waren ja keine Asketen, die im Zölibat nur für ihren eigenen Bauch zu sorgen hatten. Eine „Kirche in der Kirche“ waren sie aber, zumindest im Westen, nicht, auch wenn die Kirchen als Gebäude oft genug die Stellen der ersten Kontaktaufnahme waren – sie sorgten dafür, dass die Symbole ihrer Zunft dort vernehmlich waren. Da das offizielle Christentum dieser Bewegung nicht gerade freundlich gegenüber stand, sorgten sie aber auch dafür, dass diese Signale nur denen sichtbar sein sollten, die sie kannten, was auch meistens klappte. Außerdem gab es natürlich auch die altbewährte Praxis der Empfehlungsschreiben. Und wo immer sie saßen, sorgten sie dafür, dass wenigstens ein Minimum an Kontinuität erhalten blieb. Dabei, so seltsam es klingt, half ihnen auch die Kirche mit ihrer straffen Organisation – freilich ohne es zu wissen. Hier und da flog auch einmal einer auf – aber nie so viele, dass ein nennenswertes Loch entstanden wäre. Früher hatten sie sich nicht verstecken müssen, aber sie lernten schnell. Und an manchen Orten mussten sie sich noch nicht einmal verstecken, vor allem nicht in den nördlichen Provinzen, wo sie rasch das Ohr der neuen Herren gewannen, die meist als Arianer der römischen Kirche auch nicht gerade gewogen waren und die Klarsicht und Tatkraft dieser Beamten zu schätzen wussten. Über Philosophie sprachen sie nicht – noch nicht. Aber sie sollten bald damit beginnen, denn es war nötig, neue Generationen für den Dienst der Herren auszubilden. Die nützliche Lehre durfte nicht unnütz in die Vergessenheit dahin gehen. 


Die „Gnosis“ – Lebenslehre, Philosophie oder Religion?

Die „Gnosis“ das ist bis heutigen Tages ein Grund, warum ein Pfarrer, gleich welcher Konfession, entpflichtet werden und seinen Beruf verlieren kann. Aber was ist es eigentlich, das die Kirchen aller Couleur auch noch nach zweitausend Jahren hysterisch werden lässt? Ist es das magische Getue religiöser Konventikel die von der Kreuzigung sagen, dass Jesus sie ja „nicht wirklich“ erlitten habe? Sind es gewisse Riten, derentwegen die moralische In-tegrität der Pfarrer angezweifelt wird? Ich selbst war in einem Kindergottesdienst Zeuge eines leicht hysterisch angehauchten Anfalls eines Pastors auf die Kinderantwort: er starb ja nicht wirklich. Der Pfarrer hingegen haute wirklich zu: das ist wieder dieser elende Doke-tismus... und das Kind schaute verdutzt, es hatte mehr auf die folgende Auferstehung abge-hoben, der Ausfall des Pastors war ihm unerklärlich. Wie ich dazu kam? Nun, ich versah in meiner evangelischen Heimatgemeinde lange Jahre den Orgeldienst. Der Pfarrer, der hier einen Probegottesdienst hielt, wurde übrigens von der Gemeinde nicht „genommen“. Aber man sieht – die Berührungsangst ist irrational lebendig. Nur – der wahre Grund wird selten genannt, obgleich er schon in den Tagen des frühen Christentums ein Hauptgrund für die Ablehnung war: sie nennen ihn unwissender Weise „Vergottung“ und bezeichnen ihn, nichts wissend, als Sünde. Nichts ist er weniger als das. Und eine „Vergottung“ nach ihren Vorstellungen findet auch nicht statt. Denn was das ist, ist etwas ganz, ganz Anderes. 


Die Lebenslehre

Zunächst ist es einmal eine Handreichung, wie man leben sollte, damit man zufrieden lebt. Denn jeglicher Zwang ist uns fremd, was wir nicht gern tun, lassen wir lieber – falls es möglich ist, denn aufwaschen, wischen und Fensterputzen gehören nun einmal dazu, damit wir uns in unseren vier Wänden auch zuhause fühlen. Es gibt Dinge, die mögen wir nicht besonders, kommen aber auch nicht umhin, sie zu tun. Zum Beispiel Mathematikaufgaben zu machen, auch wenn man zu dieser Wissenschaft keine Beziehung hat und der Lehrer es auch nie verstand, eine zu schaffen. Ich fand das sehr schade, denn richtig begriffen ist die Mathematik eine tolle Wissenschaft und es tut mir in der Seele weh, dass ich unterwegs so wenig von ihr mit bekam. Nun, das lässt sich nicht mehr ausbügeln, also warum dem nach-trauern, das Leben ist bunt genug und fürs Haus reicht es ja immer noch hin. 

Die zweite Lebensregel ist: seid nicht so ėtepetėte wie der Berliner sagt, macht euch nicht ins Hemde, ob ihr das nun dürft oder nicht, esst was euch schmeckt und was ihr vertragt und zieht euch an wie ihr mögt und auf Nagelbrettern müsst ihr auch nicht schlafen. Kein Wort auch, dass euch Sex verboten wäre, ihr müsst, kurzum, selbst wissen, was euch wichtig ist. Ihr solltet selbst wissen, was euch in eurem Leben nützt und was nicht. Aber da geht es schon los: Manchem nützt, seien wir doch ehrlich, durchtrieben, skrupellos und betrügerisch zu sein, Manchem nützt auch der Mord, den er beging, ich denke da nur an das „Erbschaftspulver“ Arsenik. Und wie viele wahrheitsliebende Menschen hat ihre Liebe zur Wahrheit schon vor der Zeit ins Grab oder wenigstens in Misskredit gebracht? Wie vielen Menschen hat der Nutzen, den die Produktion dem Besitzer der Produktionsmittel brachte und bringt, schon in namenloses Elend und massivsten Schaden getrieben? Zu fragen: wem nützt es, war jedenfalls noch nie verkehrt und hat manchen Aufschluss über manchen Plan gebracht. Hier hat wohl jemand eine allzu gute Meinung von der Selbstbestimmtheit des Menschen. Esst, was man euch vorsetzt – das können auch Regenwürmer sein, soll man die auch essen? Es soll ja Leute geben, denen das schmeckt, aber ich denke, sie stellen insgesamt eher eine Minderheit vor. Aber nirgendwo ist verlangt, dass man essen soll, was nicht schmeckt. Also wird man Regenwürmer wohl ablehnen dürfen. Aber dies: sprecht keine Lügen! ist immerhin eindeutig, denn ohne Lügen lassen sich jene Versionen des Nutzens, von denen ich gerade schrieb, nicht durchsetzen. Die Sache mit dem Erbschaftspulver funktioniert nicht, wenn der Betreffende nicht über den Tathergang lügt, dass sich die Balken biegen und auch der „Wohltäter der Menschheit“ wäre mit der Wahrheit wohl schnell als „Missetäter der Menschheit“ entlarvt. Hingegen der Wahrheitsager wäre schnell im Vorteil, würden seine Gegner auch ihrerseits die Wahrheit sagen müssen, dass sie ihn nämlich hassen, weil er ihnen die Wahrheit sagt, die sie nicht hören wollen. So ist: sprecht keine Lügen! die eigentlich wichtigste Lebensregel, durch die alle anderen an ihren Platz gelangen. Aber Vorsicht – die Lebensregel verbietet nicht den Irrtum. Über ihn wird mit keinem Wort gesprochen, weder für, noch gegen ihn. Wieder einmal scheint es, als sage Jesus nicht genug – aber es ist nicht Jesus, der diese Lebensregeln verbreitet, es ist Judas Thomas, dessen Lebensumkreis einfacher gewesen sein mag als der des Herodesneffen Jesus. Seine, des Landmannes, Auswahl stellt mangels Alternativen nun den Basistext der Lehre dar. Da darf man sich über die Indizien für ein einfaches Gemüt und über jede Menge Allgemeinplätze wohl nicht wundern und muss man sich wohl listenweise Anmerkungen und Erweiterungen hinzu denken. Aber mit den Lebensregeln fängt es an, sie entscheiden, ob man zu einer solchen Möglichkeit greift, das ist es, was die Thora ständig in Konflikt mit dem Leben bringt, denn sie ist auch nur Lebenslehre und was den Koran in seiner Zeit, also im siebenten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, als praktikable Lebensorientierung erscheinen lässt. Je einfacher es ist, die Lebensregeln einer bestimmten Sekte einzuhalten, umso leichter wird sie Anhänger finden und die Chrestomathia ist erst einmal nichts anderes als eine Sekte unter vielen anderen – eine Idee, der man folgen kann, denn das meint Sekte. Man darf nicht vergessen: der Markt für solche Sekten war damals ebenso überlaufen wie er es heute ist. Eher war er es noch mehr, denn die philosophischen Alternativen waren damals sehr viel reichlicher als sie es heute sind. Sehr viel mehr Menschen suchten, sich die einzige Idee, die sie hatten, durch möglichst viele Schüler zu vergolden. Die Lebensregel der nützlichen Lehre ist, eben weil sie Nutzen für sich reklamiert, an der Lebenswirklichkeit orientiert und nicht an Wunschvorstellungen eines mehr oder weniger weltfremden Gurus. 
Aber wie schon gesagt: mit der Lebensregel beginnt der Weg. Da er aber mit ihr beginnt und nicht endet, darf sie nicht abschreckend sein und auch nicht zu viel Lebensenergie für sich reservieren – sie darf keine Thora sein, die das Leben auf allen Seiten fest umklammert hält und sie darf auch kein Koran sein, der sich in die Lebensgestaltung dessen einmischt, der ihm folgt. Sie muss auf Besonderheiten verzichten, darf weder bizarr, noch grotesk sein, sie muss in der Lage sein, das Leben zu nehmen, wie das Leben ist. Sie muss sich von allem Zwanghaften abzugrenzen suchen, mit dem andere Regelwerke sich im Gegenteil ausdrück-lich schmücken und ihre Befolger besonders aus der Masse heraus zu heben suchen. So wird dann in der Lebenslehre der Chrestomathia nur das gefordert, was für ein Leben in Lauterkeit unerlässlich ist, nämlich dies: sprecht keine Lügen! Und dies gibt Jesus noch als Dreingabe hinzu: was ihr hasst, das tut nicht. Wenn ihr es hasst, gequält zu werden, dann quält selbst nicht, wenn ihr es hasst, betrogen zu sein, dann betrügt selbst auch nicht – wenn ihr es hingegen nicht hasst, wenn man euch betrügt und quält, dann tut es unverweilt und ohne Gewissensbisse. Hier wird nicht gefordert, dass man „gut“ sein müsse, denn die Lehre weiß, dass der Mensch eben nicht „gut“ ist. Der nicht gute Mensch wird auch überall, wohin er kommt, in allen anderen Menschen nur das nicht Gute sehen und so zu der Ansicht gelangen, dass er ihnen darin gleichen müsse. Der Mensch, der Widerwillen hat, wird seinen Widerwillen über die Welt auszubreiten suchen und ihn Befreiung nennen. Man möge nicht lachen, ich habe das Beispiel erlebt: ein alter Mann, der in seinem Leben an seinem eigenen Widerwillen versagt hat, erhebt am Ende seiner Tage seinen eigenen Unwillen zum Dogma und sieht in den Menschen, die ihm darin entgegen stehen, nur noch Ungeheuer und Bösewichte. Er glorifiziert sein eigenes Versagen und trifft sich dabei mit seinesgleichen, von denen er geradezu angebetet wird. Auch das habe ich in diesem Mikrokosmos, den das Erkenntnis – Projekt darstellt, erlebt. Jede seelische Fehlstellung hat dort seinen Repräsentanten. Aber eben dies ist Programm, denn: „die Menschen denken, dass ich gekommen wäre, Frieden zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern Krieg, Zank, Streit. Drei werden gegen Zwei sein und Zwei gegen Drei,– und sie werden ein Einziges werden.“ So Jesus zum Zweck seines Projektes. Die Polarisierung ist zwar ein notwendiges Stadium, aber sie ist nicht der Endzustand. Der Weg bewirkt nicht seliges Dahinschweben, sondern er erfordert Stärke, denn dies muss ausgehalten werden. Wehe dem, der es nicht aushält. Er fällt tiefer als er zu Beginn stand. Denn sein Vertrauen in sich selbst ging mit dahin. Es hilft dem Menschen nichts, wenn er die Geheimnisse der Welt erkundet hat und der eigenen Geheimnisse unkundig ist, die eigene Streitbarkeit nicht akzeptiert, die den Weg frei machen muss zum Zustand endlichen Friedens. Es ist kein leichter Weg, den diese leichten Lebensregeln verheißen. Es ist ein Weg, auf dem man leicht in die Irre gehen kann, wenn man auch nur eine einzige Eigenschaft an sich selbst verabsolutiert – ehe man sich versieht, ist man ihr zum Opfer gefallen und aus dem, der mit sich selbst rang, wurde ein heilloser Fanatiker. Wie man also sieht, kommt es nicht darauf an, äußere Merkmale zu präsentieren, sondern darauf, mit sich selbst stets reinen Tisch zu halten. Der Mensch soll seine Kraft nicht an die Einhaltung solcher äußeren Merkmale vergeuden, sondern alle seine Kraft darauf verwenden, in diesem Kampf und Streit Sieger zu werden. Diesen Sieg wird er nicht durch seinen Triumph erringen, sondern dadurch, dass er bereit ist „der Letzte“ zu sein, denn dies ist das Kennzeichen des Ersten. Die Steine, die auf ihn geworfen werden, werden Feuer speien und die Werfenden verbrennen. Man kann es auch so verstehen, das „was in euch hinein geht wird euch nicht unrein machen“. Die Worte, mit denen sie in euch zu dringen versuchen, werden euch nicht verunreinigen, aber achtet darauf, was ihr ihnen antwortet. Wenn ihr beschimpft werdet, wenn euer Werk zu Schund und Schmutz erklärt wird, dann tut nicht desgleichen, sondern redet ernsthaft mit dem, der euch nicht hören will. Das habe ich nach bestem Wissen und Gewissen stets getan und bin auch dabei, die „Palme“ zu erringen, denn der Steinewerfer sind viele und ich bin – dem Himmel sei Dank – auch endlich zum Letzten geworden. Aber das nur nebenbei – und um zu versichern, dass hier nicht der Theoretiker und Mutmaßer spricht, sondern derjenige, der alles, was da beschrieben und versprochen ist, am eigenen Leibe erlebt und erlitten hat. 

Die Lebensregeln sind der Anfang und sie versprechen nichts, denn sie sind unbedeu-tend bis auf eine: sprecht keine Lügen! Ansonsten tut auch gern einmal, was ihr eigentlich hasst: putzt eure Fenster und bügelt eure Hemden!


Die Philosophie

Es gibt – und ich kenne einige – keine kühnere Philosophie als die der nützlichen Lehre. „Wenn sie ihren Wein abgeschüttelt haben, werden sie anders denken!“ Dies steht als sozu-sagen Transparent über allem. Aber kaum jemand, selbst der Begründer der Philosophie, hat eine Ahnung, was alles zu diesem „anders denken“ gehört. Dabei geht diese Philosophie wie jede anständige Philosophie vom Menschen aus und zum Menschen hin. Nichts an ihr ist eigentlich „metaphysisch“, nichts verschwommen. Nichts gehört an ihr in irgendwelche mystischen Nebel. Dennoch scheint diese Philosophie sich mit Dinge zu befassen, die auch in der Metaphysik moderner Philosophien eine Rolle spielen, nur dass sie eben älter und bewährter als sie alle ist. 
Im Zentrum der Philosophie steht die wahre Beschaffenheit des Menschen. Sie ist, so diese Philosophie, dem Menschen in der Regel verborgen. Dies mit gutem Grund, denn der Mensch ist nicht auf Erden, um seine wahre Beschaffenheit zu praktizieren, sondern um sich ihrer in vielen einzelnen und behutsamen Schritten bewusst zu werden, damit er auch Gebrauch von seiner Erkenntnis machen kann. Am Anfang befindet er sich generell in einem Zustand der Unbewusstheit. Außer seiner materiellen Existenz kann er nur das wahrnehmen, was ebenfalls eine materielle Existenz besitzt – also immerhin das gesamte Universum. Aber er hat die Fähigkeit, Fragen über dies hinaus zu stellen, sobald er seine materielle Existenz zur Genüge erforscht und erkannt hat. Ob und wann er das tut, ist allerdings nicht festgelegt, es kann mehrere Erdenleben erfordern, bis er dazu in der Lage ist auch nur die Frage nach einem Mehr zu stellen, von einer Antwort zu schweigen. Es kann weitere Erdenexistenzen benötigen, um von der Frage nach „dem Anderen“ zur Frage nach sich selber und von der Frage nach sich selber zur Antwort zu gelangen. Die Philosophie der Chresten hilft ihm, diese Antwort zu finden. Mehr ist erst einmal nicht ihre Aufgabe. Dazu bedient sie sich bewährter Methoden wie zum Beispiel der Unterweltsfahrt des alten Ägypten, aber ihr steht darüber hinaus ein ganzes Repertoire alternativer Methoden zur Verfügung, in das auch Techniken der modernen Esoterik inbegriffen sind. Dadurch ist sie in der Lage, sich in allen Kulturen zurecht zu finden und sich aller geeigneten Mittel zu bedienen. Man kann fragen, ob das denn noch Philosophie wäre und nicht eher eine spirituelle Schulung. Sie ist aber insofern Philosophie als sie der intellektuellen Mitarbeit des Betreffenden bedarf. Er muss seinen Verstand gebrauchen, um die Bedeutung dessen, was mit ihm geschieht und warum es geschieht zu verstehen. Er muss seinen Verstand gebrauchen, um die Eigentlichkeit dessen, was ihm offenbar wird, zu begreifen. Er muss seinen Verstand gebrauchen, um die Unterschiede zwischen materieller und eigentlicher Existenz feststellen und sich darin orientieren zu können. Er muss seinen Verstand gebrauchen können um eine dimensionslose Existenz intellektuell reflektieren zu können. Da also sein Verstand und seine Fähigkeit zu einem der Vernunft gemäßen Handeln hier so wenig ausgesetzt sind wie seine Fähigkeit zu wissensmäßiger Erfassung der näheren und weiteren Umstände dessen, was er erkennt, geht das ihm Erforderliche weit über den Rahmen einer intuitiven spirituellen Schulung hinaus. Da es aber weit darüber hinaus geht, ist die Lehre der Chrestomathie unbeschadet ihres primär methodologischen Charakters, als Philosophie anzusprechen. Freilich als eine Philosophie mit einem existenziellen Ziel. Diese Philosophie will die „Welt“ nicht erklären, sie zielt vielmehr darauf, das Individuum zu befähigen, die „Welt“ zu erkennen wie sie ist und zwar in allen ihren Facetten. Diese Erkenntnis gipfelt nicht in einer rein theoretischen Aussage über „die Welt“, sondern macht das Erkannte unmittelbar handhabbar. Der Gedanke dessen, der sich selbst erkannt hat, wird zur gestaltenden Kraft. 

Damit verbunden scheint natürlich für den Unwissenden stets die Gefahr der Manipula-tion. Diese Angst vor der Manipulation ist sogar das sicherste Zeichen der Unwissenheit über sich selbst und das, was der Mensch gewöhnlich mit diesem Selbst verbindet: seine Vorstellung von einem zu verehrenden Gott. Die Philosophie nun zeigt „des Pudels Kern“ und der ist sehr viel unspektakulärer. Aber in der Tat ähnelt das, was sie dem Menschen erfahrbar macht dem, was ihm über die Spezifik von Göttern gesagt worden ist und so ist es einer der Kernvorwürfe, den die Religion dieser Philosophie macht, dass sie ihr, der Religi-on, das Objekt ihrer Begierde raubt, indem sie dieses Objekt für den Menschen entbehrlich werden lässt. Der sich selbst erkannt hat, benötigt keinen Gott mehr, denn er befindet sich als ein solcher in einer Gemeinschaft mit lauter solchen. Aus diesem Grunde wird ein solcher Mensch sich hüten, andere seinesgleichen zu manipulieren – aber das weiß nur derjenige, der sich eben selbst erkannt hat, ein seiner selbst Unbewusster weiß das nicht und fürchtet stets den Verlust seiner selbstbestimmten Individualität – er empfindet die Fragilität seines seiner selbst unbewussten Status, aber er weiß nicht, was es mit dieser Fragilität auf sich hat. Er weiß um seine grundsätzliche Verfügbarkeit, weiß aber nicht um deren Ursache – und will es auch nicht wissen. Denn wollte er es wissen, hätte er nicht Angst vor Manipulation, sondern würde selbst der Sache auf den Grund gehen wollen. Das will er aber nicht, sondern er lamentiert stattdessen herum und misst sich selbst passive Opferrollen zu. Solche Quengler und Heuler gab es zu allen Zeiten und es gibt sie auch heute. Sie sind eine Spezies, mit der man eben aufgrund der sehr niedrigen Eintrittsschwelle der Wesen in diese Welt allezeit rechnen muss. Das Beste ist, sie voller Mitgefühl - zu übergehen. 
Die Philosophie hat den Chresten auch seit je den Vorwurf eingetragen, hochfahrend zu sein. Das ist schlechterdings unvorstellbar für jemanden, der sich selbst erkannt hat. Aber es mag dem seiner selbst noch Unbewussten zuweilen so erscheinen, kann er doch die Beschaffenheit des Anderen nicht ergründen und wie der Mensch beschaffen ist, formt er aus seiner eigenen Unsicherheit über sich selbst stets ein tiefgründiges Misstrauen gegen alles, was nicht den gleichen Geruch ausströmt wie das Unbewusste, das er kennt. Er fühlt sich nur seinesgleichen zugehörig und geht in seiner eigenen Begrenztheit vollkommen auf. Unbegrenztheit, Selbständigkeit des Denkens und Fühlens ängstigt ihn ohne dass er weiß, warum das so ist und wie er dem begegnen kann. Daher wütete er gegen alle und alles, was ihm in irgendeiner Weise fremd ist. Man erlebt das in allen Zeiten und gerade in dieser hier können wir lange Lieder davon singen, da die abendländische Kultur sich mit einer halb mittelalterlichen orientalischen konfrontiert sieht, die ihren Weg in die Zivilisation erst noch sucht und dabei so manchen Fehltritt begeht. Alles, was der seiner selbst unbewusste und daher unsichere Mensch nicht versteht – und das ist eine Menge – lehnt er aggressiv ab. Er wittert in allem Gefahr der eigenen Entwurzelung und versteht nicht, dass er selbst der Wurzellose ist. Sich in sich selbst durch Erkenntnis zu befestigen lehnt er jedoch kategorisch ab. Auch dies ist nur eine Spezifik des Unbewussten, der mit Gelassenheit und wenn nötig mit Entschiedenheit zu begegnen ist – zu vermeiden ist sie nicht. Man kann sie nur in Grenzen halten. 

Allerdings sind und waren diese Ängste niemals allgemein. Auf viele, vor allem die Ge-bildeten, wirkte die Gegenwart der Chresten eher anregend und belebend, weshalb ihre Philosophie auch weithin Anklang fand und in der Hochzeit des römischen Reiches weite Kreise beherrschte – so sehr, dass man nur noch von „der Philosophie“ zu sprechen pflegte, wenn man sie meinte. Der praktische Nutzen derselben war auch nicht zu übersehen, denn die Anhänger der Philosophie pflegten ihre Aufgaben mit Weitsicht und Umsicht wahrzu-nehmen und konnten aus ihrer Beschaffenheit heraus auch Manches Ungünstige direkt, wenn auch verstohlen, günstig beeinflussen, das sich der Behandlung mittels Paragraphen entzog. Zudem sagte man ihrem Wirken einen wohltätigen Einfluss auf kranke Gemüter nach – in einer Zeit, die den Begriff des Psychologischen noch nicht kannte, konnten sie auf diese Art und Weise manch eine, wir würden heute sagen, im weitesten Sinne psychosoma-tische, Krankheit heilen. Nun beruhen aber die wenigsten Krankheiten auf einer Konfronta-tion mit Erregern, die meisten haben psychosomatische Ursachen, das Zusammenspiel von Körper und Geist ist gestört und so ging den Chresten auch oft der Ruf nach, ausgezeichnete Heiler zu sein. Gegen ein Virus oder ein Bakterium waren sie hingegen ebenso machtlos wie ihre nicht „eingeweihten“ Zeitgenossen. Sie beherrschten nur das, was man heute im weitesten Sinne Seelsorge nennt und was in der damaligen Zeit sonst unbekannt war. Denn diese Seelsorge ging weit über den Rat hinaus, den man einander erteilte, sie ging auch über das hinaus, was man einander an Trost und Hoffnung spendete, sie zielte und traf in die Tiefe der Seele hinein und mit einigen gezielten Fragen genau auf die kranke Stelle. Auch das trug und trägt zu ihrer Beliebtheit ebenso bei wie zur strikten und ängstlichen Ablehnung. Denn die Philosophie der Chresten ist keine Vergangenheit, sie ist heute ebenso unmittelbar erfahrbare Gegenwart wie sie es in den Tagen des römischen Reiches war und sie hat keine ihrer Möglichkeiten eingebüßt. Das macht: sie ist im wahrsten Sinne dieses Wortes zeitlos. 


Die Religion

Ich sprach bereits davon, dass in der Figur des Vaters (und des Sohnes und des Geistes) die religiöse Komponente bereits in den Anfängen vorgebildet war. Daher blieb es nicht aus, dass sie sich auch zu einer Religion entwickelte, die ihre eigenen Mythen und Gottwesen schuf und verehrte. Diese Religion erwuchs aus dem Bestreben, einerseits mit der hochmo-dernen Philosophie gleich geachtet zu werden, andererseits aber auch die besonders unter den unteren Volksschichten sich immer mehr verbreitende Religion aufzuwerten, indem man Begriffe der Philosophie in das religiöse System übernahm. Das hauptsächliche Objekt dieser Religion war der „Vater“ oder auch „Abgrund“ genannt, der unbeschreiblich über allem herrschte und thronte. Aus ihm, so der Mythos, war der Sohn vor aller Zeit hervorge-gangen und hatte einen ganzen Hofstaat personifizierte Ideen um sich versammelt. Seine „Frau“ war die Sophia, die eines Tages darauf kam, auch eine Idee zu schaffen und dabei den missratenen Demiurgen schuf, der sich seinerseits eine Welt, nämlich diese, ersann und da sie nicht lebendig sein wollte, Wesen aus dem Reich des Vaters einfing und in diese Welt einkerkerte, damit sie dieselbe lebendig machen sollten. Das taten sie auch, so der Mythos, weil sie eben vom Geist des Vaters hatten, aber sie strebten wieder zur heimatlichen Sphäre zurück und diese Welt befand sich also andauernd in Gefahr zu vergehen – was der Demi-urg teils mit List, teils mit Zwang zu verhindern suchte, denn er hielt seine Schöpfung für die einzige und sich selbst für den einzigen Gott. Der Demiurg war es auch, der den Menschen Gesetze gab und Verstöße gegen diese Gesetze erbarmungslos ahndete um die Gefangenen immer tiefer zu knechten. Als der Gefangenen immer mehr wurden und sie sich immer erfolgloser wehrten, sandte Gottvater seinen Sohn um den Gefangenen den Weg in die Freiheit zu zeigen. Dieser Sohn wurde von seinen Feinden, den materiell privilegierten Dienern des Demiurgen, gefangen und sollte gekreuzigt werden, aber er entfloh vom Kreuz und sie kreuzigten stattdessen einen anderen, der ihm ähnlich sah. Um diesen grundlegenden Mythos herum sammelten sich andere Mythen und bildeten sich je nach Geschmack mehr oder weniger „okkulte“ Gemeinschaften, die sich meist am Christentum, aber auch an syrischen und kleinasiatischen Kulten orientierten und teilweise orgiastische Praktiken kreierten. Diese Gemeinden wurden von ihren Gegnern mit einem Sammelbegriff „Gnostiker“ genannt, weil sie versprachen, durch die Befolgung ihrer Rituale dem Gläubigen Erkenntnis seiner selbst zu verschaffen – weniger mühevoll und vielleicht spannender als es die Philosophen auf ihrem Ausbildungsweg taten. Diese Gemeinden wuchsen vor allem im Osten des Reiches zu einer beachtlichen Breitenwirkung an und gerieten dabei mit den Christen überkreuz, deren Heiland sie ebenfalls für sich beanspruchten. Den Verlauf dieser Auseinandersetzung kann man in der gesamten frühen Kirchengeschichte anschaulich verfolgen – als das Christentum Staatsreligion und dann einzig noch erlaubte Religion wurde, brach die Verfolgung über sie herein und sie gingen, früher noch als die Philosophen, in den Untergrund. Die taten es erst, als Justinian die antiken Philosophenschulen schloss. Sie gerieten aber auch mit den Philosophen aneinander, das (apokryphe) Philippusevangelium, eigentlich ein Konspekt zu gerade brisanten Problemen, gibt davon annäherungsweise Bescheid. Im Westen des Reiches war ihre Bedeutung hingegen nur schwach und sie gingen mehr oder weniger schnell in einem Christentum mit gnostischen Versatzstücken auf, unter dem dann allerdings das des Paulus entscheidende Bedeutung für beide Reichsteile erlangte. Auch diese Religion ist übrigens in vielen Konventikeln nach wie vor zugange, es ist dem Christentum durch zweitausend Jahre gleichfalls nicht gelungen, sie auszumerzen - aber sie ist wesentlich zurück gedrängt wor-den und heute nur noch eine Domäne von durch die Kirchenvor allem in ihren kultischen Bedürfnissen nicht befriedigten Frommen. Ihr Erscheinungsbild ist sehr unterschiedlich, teilweise definieren sie sich als Bestandteil satanistischer Bewegungen wie sie im neunzehn-ten Jahrhundert unserer Zeitrechnung aufkamen, teilweise geben sie sich auch betont christ-lich als die sozusagen „besseren Christen“. Im Unterschied zu den Anhängern der Chresto-mathie sind sie aber eben betont gläubig und sehen sich selbst als religiös an. Mit Vorliebe wurzeln sie in der katholischen Frömmigkeit, die ihrem kultischen Bedürfnis entgegen kommt, aus protestantischer Perspektive haben sich wenige solche Konventikel gegründet, wenn, dann vor allem auf anglikanisch – hochkirchlichem Hintergrund. Auf ihre Weise füh-ren sie das Geheimbundwesen weiter, das im achtzehnten Jahrhundert durch die Gründung der Freimaurer seinen Anfang nahm. Auch sonst ergeht es ihnen wie den Freimaurern – sie sind wohl voll guten Willens, haben jedoch keine Ahnung. 

Aber die Krone aufgesetzt hat dem allen der Mensch, dem ich erlaubt habe, mir die Tü-ren zu zeigen, die ich von mir aus nie zu öffnen gewagt hätte, als er sich selbst, in keiner Weise fromm, als religiös bezeichnete. Da ich sicher weiß, er ist es nicht, er hat zu sich selbst das gleiche klare und nüchterne Verhältnis wie ich selber, machte mich diese Selbsteinschät-zung begreiflicherweise mehr als stutzig. Wie kann... ja, wie kann? Wenn ich aber das neueste Werk über unsere Geschichte betrachte und dabei feststellen muss, dass schlichte Mystik bereits als ein nonkonformistischer Gipfel gewertet wird und wieder einmal die Gottsuche über allem steht, ist mir das verständlich – da sucht ein Gott also seinen Gott. Nun, kann ich nur sagen, fröhliches Im Kreis Laufen dann – ich ziehe es vor, nicht ständig übersetzen zu müssen, was ich damit nicht meine. Also bezeichne ich mich und die Philosophie nicht als religiös und über Gott habe ich demzufolge noch gar nicht gesprochen, ich will es gleich einmal nachholen.

Gott ist definitiv alles das, was der Mensch sich an seinen eigenen Fähigkeiten nicht zutraut und die Religion bestärkt ihn noch in diesem Minderwertigkeitskomplex. Gott ist aber auch kein Grund, die Nase hoch zu tragen, eher einer für verstärkte Achtsamkeit auf das eigene Tun und Lassen, für das man nun selbst verantwortlich zeichnet soweit man es überschaut, denn auch einem Gott ist nicht alles bekannt, was im Menschenherzen vor sich geht, einfach, weil er es gar nicht wissen will. Aber ein Mensch, der sich so erkannt hat, wird sich nicht anbeten, das wäre lächerlich. Er wird sich auch nicht opfern lassen, denn das wäre Betrug. Ein religiöser Mensch aber betet und opfert und ergeht sich in erhebenden oder vernichtenden Gefühlen je nachdem. Das alles kommt für einen Menschen, der sich erkannt hat, nicht mehr in Frage. Es ist wahr, was geschrieben steht: der Mensch, der sich erkannt hat, kommt zur Ruhe. Natürlich hat er noch Fragen, denn ein Gott ist, man höre und staune, nicht allwissend. Aber die Fragen quälen ihn nicht mehr mit Unsicherheit, er wird, wenn es nötig ist, die Antworten bereit finden. Es gibt keine Todesangst mehr, obgleich dieser Mensch wie jeder andere sterben wird, aber dieser Tod ist nur eine Linie, die er überschrei-tet, ein Gott ist nun einmal unsterblich. Man verstehe mich recht, dieser Mensch unterdrückt seine Furcht nicht – er hat sie nicht mehr. Er hat auch kein Verlangen mehr nach frommer Ekstase, religiöse Festzeiten lassen ihn bis ins Innerste kalt. Es gibt vielleicht ein paar Äußerlichkeiten, die er beachtet, weil man ja nicht aus dem Rahmen fallen muss, aber das ist dann schon alles – und dieser Mensch da erlebt fromme Ekstasen, er wird von Fragen gequält, er leidet Todesängste und hofft auf Rettung durch ein höchstes Wesen, das aber ausgerechnet auf ihn schaut, solch ein Hochmut, er ist in seiner Existenz zwar von Hoffnung getragen, aber diese Hoffnung kann brechen, denn er trägt seinen Schatz, wie Paulus sagt, in tönernen Gefäßen... das bedeutet: er ist religiös. Für solche Menschen bedeutet der Strohhalm des Religiösen den Ersatz für die Selbsterkenntnis. Nun wohl. Ich habe das Recht mich zu wundern, das Recht, ihn zu verachten, weil er den Schatz weggab, habe ich nicht. Ich erinnere mich aber daran, dass dieser Mensch von Panikattacken sprach die er hätte – vielleicht kommt seine unverhoffte Religiosität daher, aus dieser tiefen Unsicherheit seiner Seele? Ich wusste bis dahin nicht, dass er überhaupt unsicher in seiner Seele ist. Nun, wie auch immer, ich kann ihm in seine Religiosität nicht folgen und sollte sie Bestandteil der Philosophie sein, diese Religiosität, so muss ich die Philosophie leider sein lassen, denn mich hat sie etwas Anderes gelehrt: auf meinen eigene Beinen zu stehen, weil ich sonst keine anderen habe und nach Möglichkeit

Übertrag aus dem alten Forum von Juliane Bobrowski.
Lautlos ist die Wahrheit, wie der Staub in einem tönernen Gefäß, das Gefäß kann brechen, was bleibt ist die Wahrheit.....
Zitieren


Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 3 Gast/Gäste