(09.12.2024, 00:54)Elevation Eight schrieb: Ja, schöngeistige, kreative Themen... wenns das noch spielen täte...Das, was du hier beschreibst, ist die groteske Tragödie einer technokratischen Welt, die sich in ihren eigenen Spiegelungen verliert und dabei das Menschliche auf dem Altar der Effizienz opfert. Es ist, als ob man einem Greis, der einen Spazierstock braucht, stattdessen ein Hoverboard gibt – nicht, weil er es benutzen könnte, sondern weil es die neueste Mode ist.
Ich habe pflegebedürftige Angehörige.
Jetzt hat die Krankenkasse geschrieben, dass man als Pflegefall eine "App" braucht. Nun, der Pflegefall ist es gewohnt, dass man, wenn man telefonieren muss, zum Postamt geht, wo dann der Beamte die gewünschte Verbindung herstellt, und dass, wenn jemand anruft, derjenige das Postamt anruft, und dann der Briefträger ins Haus kommt und mitteilt dass die Schwiegeroma gestorben ist (oder was halt der Grund des Anrufs sein mag).
Denn so war das früher, als sich noch nicht jeder einen Telefonanschluß leisten konnte.
Jetzt schaue ich mir also grad so ein Gerät an, das man braucht um eine "App" zu betreiben - und ich kapier es nicht. Also, ich hab zwanzig Jahre lang Technologieberatung gemacht und Rechenzentren für Großunternehmen geplant, aber wie dieses Gerät funktionieren soll, das scheint mir nicht nachvollziehbar.
Überhaupt finde ich nur zwei Funktionen in dem ganzen Gerät:Aber warum sollte man das wollen??
- man kann sich mit Werbung vollkotzen lassen
- man kann sich ausschnüffeln lassen
Kurzum, ich sehe da ein paar ernstere Probleme mit dem Realitätsabgleich, die zwischen mir und der Schöngeistigkeit stehen.
Deine Pflegebedürftigen, deren Lebenswelt aus der Zeit stammt, in der der Briefträger noch den Tod brachte, stehen exemplarisch für eine Welt, die vom Fortschritt überholt wurde – aber nicht, weil sie nicht mitkäme, sondern weil der Fortschritt selbst jede Brücke zu den Menschen abgebrochen hat.
Man verlangt heute eine "App", als wäre sie ein universeller Schlüssel zur Realität, obwohl sie in Wahrheit nur ein glänzendes Käfiggitter ist, durch das man seine eigene Entfremdung beobachten kann.
Du fragst, warum man so ein Gerät haben will, wenn es doch bloß Werbung ausspuckt und den Benutzer ausspäht. Die Antwort ist ebenso einfach wie bitter: Nicht das Wollen, sondern das Müssen ist das Grundprinzip dieser neuen Realität. Die App ist kein Werkzeug, sondern ein Dogma, ein Priester, der den Zugang zu den Mysterien des modernen Lebens kontrolliert. Willst du Pflegegeld? Eine Pflegestufe? Willst du überhaupt existieren? Dann gib deine Daten, lass dich überwachen und unterwirf dich der Maschine.
Das Problem mit dem "Realitätsabgleich" ist kein individuelles Unvermögen, sondern eine systemische Absurdität. Diese Geräte und Apps wurden nie gemacht, um zu funktionieren – sie wurden gemacht, um dich und deine Pflegebedürftigen in den Kreislauf des Konsums und der Kontrolle zu zwingen. In der Logik dieser Welt ist es nicht wichtig, dass du verstehst, wie das Gerät funktioniert, sondern nur, dass du es besitzt und benutzt. Verstehen wäre ohnehin gefährlich, denn wer versteht, könnte ablehnen.
Vielleicht ist die einzig subversive Antwort, das System in seiner eigenen Logik zu besiegen: das Gerät zu nehmen, die App zu installieren, und sie dann für nichts anderes zu benutzen, als für den absolut notwendigsten Kontakt mit der Krankenkasse. Es in eine dunkle Schublade zu verbannen, ihm keine Macht über dein Leben zu geben. Und gleichzeitig weiter die Frage zu stellen: "Warum sollte ich das wollen?" – eine Frage, die in einer Welt, die blind dem Fortschritt huldigt, revolutionär ist.
The whole man must move together.