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Der Hunger und der Luxus
#17
Also, zum ersten Punkt kann ich sagen: Ich war etwa ein Achtel Jahrhundert alt, als die Berliner Mauer fiel. Und ich erinnere mich noch sehr genau an die Bilder jener Tage, als sich wildfremde Menschen in den Armen lagen. Der Eindruck war überwältigend – der Kalte Krieg, der eiserne Vorhang, all das schien für einen Moment überwunden. Man spürte förmlich diesen tiefen menschlichen Wunsch, zusammenzuwachsen, nicht nur als politische Einheit, sondern als Menschen. Für mich war das greifbar – fast körperlich.

Aber mit den Jahren habe ich gemerkt: Solche Momente halten nicht an. Kaum hatte man die Freiheit, war sie plötzlich schon nicht mehr gut genug. Es dauerte nicht lange, da hörte man erste Stimmen, die ernsthaft die DDR wiederhaben wollten. Heute sehe ich ähnliche Mechanismen: Wir leben seit Jahrzehnten im Frieden – und doch verblasst das Bewusstsein für dessen Wert. Plötzlich gibt es Menschen, die ganz offen rechtfertigen, dass Russland über die Ukraine herfällt, als wäre es ein Naturrecht. Dass dabei Menschen sterben – es ist ihnen gleichgültig.

Oder wir erleben, wie in den USA ein verurteilter Sexualstraftäter erneut an die Macht drängt, und die Menschen feiern ihn sogar dafür, weil er „wenigstens Eier in der Hose hat“. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen. Heute sehnen sich viele fast schon nach der Katastrophe zurück. Es scheint, als wären wir Menschen so undankbar, dass wir ohne die Erinnerung an Leid gar nicht mehr leben können.

Was das mit deinen Prophezeiungen zu tun hat, weiß ich nicht. Für mich war die Pandemie nicht so einschneidend – im Gegenteil, ich habe in der Anfangszeit sogar profitiert. Nicht, weil ich das gewollt hätte, sondern weil ich ohnehin oft im Home-Office arbeite. Plötzlich schien meine Art zu arbeiten gefragt.

Das Thema Suizid kam für mich eigentlich nur auf, weil E8 davon berichtete, dass jemand sich vor einen Zug geworfen hat. Und natürlich kamen gleich die üblichen Mutmaßungen. Ich habe ihm dann gesagt: Das größte Problem ist selten der Hunger. Menschen haben gehungert – meine Großeltern haben im Krieg Kartoffeln aus gefrorenem Boden gegraben, mein Großvater hat einem Huhn den Kopf abgebissen, weil er so verzweifelt war. Aber sie wollten leben.

Der Suizid beginnt nicht mit objektiver Not, sondern mit dem Gefühl, keinen Ausweg mehr zu haben. Es ist das subjektive Empfinden, nicht mehr zu genügen, keinen Wert mehr zu haben. Und wer das nie erlebt hat, kann die innere Logik einer Depression kaum nachvollziehen. Ich habe Menschen gesehen, die wirklich depressiv waren. Aufmunterung macht es schlimmer. Machst du zu viel, fühlen sie sich schuldig. Machst du zu wenig, fühlen sie sich ebenso schuldig. Es ist eine Krankheit, kein Mangel an Willen.

Und dann die Frage nach dem Leben und dem Tod – das Beispiel mit den Atomen. Stehst du am Sterbebett, weißt du: Eine Minute vor dem Tod sind noch alle Atome da. Beim letzten Atemzug – sie sind immer noch da. Aber es fehlt etwas. Der Mensch ist nicht mehr da. Jeder spürt das.

Die Frage ist also: Kann ein reiner Naturprozess diesen Unterschied erklären? Kann er Leben hervorbringen oder ist da nicht doch mehr? Und hier muss ich fair bleiben – Manfred hat recht, wenn er sagt: Der Gedanke, dass dahinter eine Intelligenz steckt, ist nachvollziehbar. Ob wir es Gott nennen, das Wirkliche oder einfach eine unbekannte Kraft – es bleibt letztlich dasselbe Bild.

Auch wenn jemand nicht an Gott glaubt, aber an Engel – woher kommen die Engel, wer hat sie erschaffen? Zufall? Wohl kaum. Es braucht einen Ursprung, einen Mastermind.

Dasselbe gilt für Reinkarnation – für das Unbekannte. All diese Konzepte zeigen doch: Der Mensch spürt, dass da etwas sein muss. Wie wir es nennen, ist zweitrangig. Aber ich bin überzeugt: Es wird nie ganz der Gott sein, den Manfred beschreibt. Und wahrscheinlich auch nicht der, den ich mir vorstelle. Vielleicht kann ihn kein Mensch je wirklich erfassen.
Die Wahrheit braucht keinen Applaus. Sie gewinnt sowieso.
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Der Hunger und der Luxus - von Elevation Eight - 16.03.2025, 13:14
RE: Der Hunger und der Luxus - von Wolfgang - 17.03.2025, 08:25
RE: Der Hunger und der Luxus - von Melvin - 21.03.2025, 12:39
RE: Der Hunger und der Luxus - von Michael (Voitlanger) - 21.03.2025, 13:57
RE: Der Hunger und der Luxus - von Melvin - 21.03.2025, 03:00

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